Tanja überlegt: Was ist Reiten?

 

Komische Frage? Bei weitem nicht. Für viele Menschen gibt es nichts Schöneres, als auf dem Rücken eines Pferdes die Natur zu genießen, im Galopp dahinzufegen, mit dem Tier seine Freizeit zu verbringen. 

 

Vergessen wird aber gerne eines: das Pferd ist grundsätzlich von seinem Körperbau her nicht geeignet, eine Last auf dem Rücken zu tragen. Der Rücken eines Pferdes ist wie eine Hängebrücke konstruiert. Vor- und Hinterhand bilden die Stützpfeiler, der Rücken die Brücke. Wird diese Konstruktion mit einem Gewicht belastet und hat das Pferd nicht gelernt, dieses Gewicht entsprechend zu tragen, kommt es zu Schädigungen. Schädigungen am Knochengerüst des Pferdes, an seinen Muskeln, auch sein psychisches Befinden leidet. Überlegen wir: das Pferd ist ein Fluchttier, das jemanden auf seinem Rücken dulden soll, den es nicht sieht?

 

Um all diese hier nur unspezifisch und allgemein angesprochenen Punkte für das Pferd in körperlicher und geistiger Hinsicht erträglich zu machen, noch mehr: es zu freudiger Mitarbeit mit dem Menschen zu bringen, darum geht es beim Reiten. Reiten ist nicht, sich nur auf dem Rücken eines Pferdes durch die Gegend tragen zu lassen! Reiten bedeutet, mit dem Pferd zusammen eine Einheit zu bilden, so daß schließlich Mensch und Pferd Freude am gemeinsamen Miteinander und Umgang haben und nicht einer von beiden mit körperlichen und geistigen Mängeln auf der Strecke bleibt.

 

Dies ist ein sehr langwieriger Weg, der seltsamerweise umso schwieriger wird, je länger man ihn geht:

 

Reiten ist nicht weiter schwierig, solange man nichts davon versteht.
Aus: "Vollendete Reitkunst", Dr. Udo Bürger, 1959

 

Hier kann ich aus dem Nähkästchen plaudern:

 

Meine Reitausbildung begann recht spät mit ca. 20 Jahren in einer konventionellen Reitschule auf dem Lande. Wir ritten auf dem Reitplatz alle hintereinander im Entenmarsch her, der erste trabte oder galoppierte an, ritt maximal einmal an der Gruppe vorbei und schloß wieder hintenan.

 

Was ich hier lernte? Mmmmh. Sicherlich erst einmal, mich irgendwie im Sattel zu halten. Irgendwie. Ich lernte annähernd, wo sich Gas und Bremse beim Pferd befanden. Das war es im Großen und Ganzen. Hieran änderte sich über Jahre, leider Gottes sogar über ein Jahrzehnt nichts. Ich saß mit dem festen Glauben im Sattel, ein Pferd reiten zu können. Sicherlich nicht mit Schleifchenauszeichnung. Aber ich konnte dem Tier vermitteln, in welche Richtung es zu gehen hatte und in welcher Gangart dies erfolgen solle. Irgendwie...

 

Mit Anfang 30 machte ich sodann eine bahnbrechende Entdeckung: es gab Literatur übers Reiten. Keine Wendy-Heftchen, sondern ernsthafte Bücher, die sich mit der Ausbildung von Pferd und Reiter auseinandersetzten. Das war bisher komplett an mir vorbei gegangen. Außerdem war ich im - zwischenzeitlich leider geschlossenen - Vfd-Forum gelandet, wo munter über dies und jenes, auch übers Reiten diskutiert wurde. Und ich fragte mich: über was, bitteschön, reden die denn da??? Ich wurde neugierig. Und kaufte mir ein Buch.

 

Was soll ich sagen: mir gingen ganze Atomkraftwerke auf! Du liebes bißchen! Da saß ich nun über 10 Jahre im Sattel und keiner meiner Reitlehrer hatte mir in irgendeiner Form nur annähernd mitgeteilt, was ich eigentlich alles wissen, fühlen, können müßte. Das war hart. Die nächste Zeit hatte ich nichts anderes zu tun, als wöchentlich neue Pferde- und Reitliteratur zu bestellen und zu wälzen. Gerret machte schon ein deutlich entnervtes Gesicht, kam schon wieder ein Bücherpäckchen ins Haus. Ich kaufte alles: neue Literatur à la Mike Geitner und alte Klassiker wie Oeynhausen oder de la Gueriniere. Ich verschlang die Bücher von Stodulka genauso wie von Philippe Karl. Und aus allen konnte ich vieles mitnehmen.

 

Ich habe bei weitem nicht sofort alles verstanden, was da in diesen schlauen Büchern stand. Vor allem konnte ich zunächst nicht einmal nachvollziehen, was die da schrieben! Denn: ich konnte das alles gar nicht fühlen! Und auch heute noch habe ich sehr oft Aha-Erlebnisse, wenn ich etwas nachlese und plötzlich sagen kann: "Ach, daaaaas hat der Autor damit gemeint!". Zwischenzeitlich habe ich auch umgekehrte Erfolge: ich spüre nunmehr beim Reiten viel mehr und weiß hieraus umso schneller, was das Pferd in genau dieser Minute braucht und wie ich einwirken kann. Mit Mißmut mußte ich feststellen, daß man mir zwar viel Handwerk beigebracht hatte, aber keinerlei Hintergrundwissen oder Gefühl. :-(

 

Um zur Brückenkonstruktion zurückzukommen: das Pferd muß, um das Gewicht auf seinem Rücken schadlos tragen zu können, diesen aufwölben. Es soll die Vorhand ent- und die Hinterhand vermehrt belasten. Wie "sagt" man das aber einem Tier, das unsere Sprache nicht versteht und wie kann ich, der ich auf dem Tier sitze und es nicht vom Boden aus betrachten kann, nachvollziehen, ob es das dann auch noch richtig macht? Aus dieser Fragestellung ergibt sich, daß man für anatomisch korrektes Reiten mehrere Dinge braucht: durchaus viel physikalisches Verständnis, Wissen um die Biomechanik des Pferdes und immens viel Gefühl: Gefühl im Allerwertesten, in den Schenkeln, in den Händen, im ganzen Körper. Und das will dann auch noch ein Menschlein tun, das den ganzen lieben langen Tag vor dem Computer sitzt, sich immer weniger bewegt, dem die Technik heutzutage alles mögliche abnimmt.

 

So bekommt das oben genannte Zitat durchaus weitreichenden Sinn.

 

Dennoch entmutigt es mich nicht. Naja, hin und wieder vielleicht ein klitzekleines bißchen. Da tun sich oft plötzlich Gräben auf, wo vorher noch alles topfeben war. Aber dennoch verdienen es diese wundervollen Vierbeiner, daß man sich nach besten Wissen und Gewissen um sie bemüht, wenn man sie so erhalten möchte, wie sie als ungerittene Pferde auf der Weide umhertollen und mit purer Lebensfreude ihre ernorme Kraft zeigen.

 

Deshalb: was ist Reiten?

 

Reiten: das Zwischenspiel zweier Körper und zweier Seelen,

das dahin zielt, den vollkommenen Einklang zwischen ihnen herzustellen.
Waldemar Seunig